Jeder darf darüber philosophieren und schimpfen, jeder darf sich zu den unglaublichsten Ansichten versteigen und jeder scheint auf diesem Gebiet ein Experte zu sein: Wir sprechen von der hehren Kunst. Tatsächlich gibt es kaum ein Fachgebiet, über das mehr geschrieben und geredet wird – und trotzdem (oder vielleicht deswegen) gehen die Meinungen darüber meilenweit auseinander.
Natürlich versuchen wir uns zu „bilden“, was dieses Gebiet angeht, wir besuchen eifrig Museen und Ausstellungen – und plötzlich passiert es: Wir stehen vor einem Gemälde moderner Kunst – und verstehen nicht, was der Künstler eigentlich damit sagen will. Wir verstehen gar nichts. Heimlich, ohne dass es jemand bemerkt, fragen Sie sich: „Welcher Esel würde für diese Farbkleckse 20‘000 Franken hinblättern, für eine weiße Leinwand mit ein paar wilden Strichen?“ Und dann verwerfen Sie diesen ketzerischen Gedanken sofort wieder. Und plötzlich beschleicht Sie ein unangenehmes Gefühl. Es überfällt sie geradezu rückwärtig, fast heimtückisch. „Möglicherweise“, denken Sie, „verstehe nur ich nichts von moderner Kunst? Vielleicht ist mein Horizont zu beschränkt? Vielleicht bin der Esel – ich?“
Verstohlen schauen sie sich um, ob auch niemand Ihre Gedanken bemerkt und heimlich gelesen hat. Gott sei Dank, niemand! Ihnen fällt ein Stein vom Herzen. So unauffällig wie möglich studieren Sie nun die Gesichter der anderen Besucher, die das moderne Gemälde beäugen. Einige ziehen ihre Stirn kraus, als würden sie angestrengt nachdenken. Andere scheinen in Ehrfurcht zu erstarren. Auf keinen Fall können Sie es sich leisten, sich unsterblich zu blamieren. Also treten Sie noch einmal auf das moderne Gemälde zu und mustern es argwöhnisch, Zentimeter für Zentimeter. Sollte es sich doch um Kunst handeln? Ein Arbeitskollege tritt hinter Sie, gerade im falschen Augenblick. Oh, diesen Kollegen muss man beeindrucken, man kann es sich keinesfalls leisten, als Kunstbanause abqualifiziert zu werden! Nur nicht dumm dastehen, denken Sie. Also lassen Sie jetzt einige kluge Kommentare ab. Diese Kommentare klingen sehr gebildet, pro Satz enthalten sie zwei Fremdwörter.
Auch eine verwurstelte Grammatik ist angezeigt. Den Vogel schießt man natürlich ab, wenn man einen tiefsinnigen Denker zitieren kann, der über diesen Künstler hochgestochen philosophiert hat. „Dieses Bild revolutioniert das Sehen!“ sagen Sie. Der Arbeitskollege nickt bedächtig. Er kann jetzt auf keinen Fall in die zweite Reihe treten. Also antwortet er, wie ein Wissender: „Eine dalinische Form der Linienführung.“ Das moderne Gemälde hat nichts, aber auch gar nichts mit Salvador Dalí zu tun, aber Sie lassen sich Ihren Protest nicht anmerken. Im Gegenteil, Sie kommentieren: „Es erinnert mich an eine von Dalís Schnecken!“ Der Kollege kann spätestens jetzt den Schwanz nicht mehr einziehen, und so entgegnet er nur: „Die Schnecken stecken voller Symbole!“ Nach einer kleinen Pause fügt er hinzu, mit leiser, fast andächtiger Stimme: „Die Schnecke sieht aus wie eine kleine, hübsche Vagina!“ „Eine vaginale Botschaft!“ flüstern Sie, fast heiser vor Erregung ob so viel Genialität, die in einem einzigen, schmutzigen Pinselstrich liegen kann.
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Jeder darf darüber philosophieren und schimpfen, jeder darf sich zu den unglaublichsten Ansichten versteigen und jeder scheint auf diesem Gebiet ein Experte zu sein: Wir sprechen von der hehren Kunst.
Natürlich versuchen wir uns zu „bilden“, was dieses Gebiet angeht, wir besuchen eifrig Museen und Ausstellungen – und plötzlich passiert es: Wir stehen vor einem Gemälde moderner Kunst – und verstehen nicht, was der Künstler eigentlich damit sagen will.